Die Geschichte von "Hänsel und Gretel" beginnt mit einem Schock: Zwei Kinder werden von ihren Eltern im Wald ausgesetzt. Es herrscht Not, eine große Teuerung und als Folge eine Hungersnot. Erfahrungen, die sich den Menschen tief ins Gedächtnis eingeprägt und sich im Märchen niedergeschlagen haben.
Am unteren Ende der sozialen Stufenleiter
Das Märchen erzählt von einer Holzhackerfamilie – arm und missachtet, wie viele andere in diesem einst weit verbreiteten Beruf. Menschen vom unteren Ende der sozialen Stufenleiter haben Krisen und Notzeiten naturgemäß am härtesten erfahren. Die Kinder von Holzfällern mussten mitarbeiten. Sie wussten alles über den Wald. Aber von der Möglichkeit durch Bildung aufzusteigen waren sie weit entfernt. Überall herrschte Mangel. Das Märchen erzählt von den verzweifelten Versuchen, diesem Strudel zu entkommen.
So enthält jedes der Motive im Märchen Nachrichten aus der Wirklichkeit. Mit wenigen Strichen wird die Lebenswelt der Kinder skizziert. Der Wald, in den sie gehen, steht für alles Bedrohliche. Dort gibt es wilde Tiere und unbekannte Gefahren. Aber der Wald kann auch zum Zufluchtsort werden. Und in der Zeit der Romantik, die auch Jacob und Wilhelm Grimm geprägt hat, wird der Wald zum Reich der Fantasie idealisiert.
Das Hexenhäuschen aus Kuchen und Zucker, die Hexe und ihre Hinterlist – all das kann jedes Kind mühelos verstehen. Spannend wird es, wenn es um die konkrete Bedeutung der Hexen geht: einsame, alte Frauen, die am Waldrand wohnten und zum Opfer der Hexenverfolgungen wurden, die erst kurz vor der Lebenszeit der Brüder Grimm ein Ende fanden. Und dann gibt es im Märchen einen weiteren Schock:
Die Hexe will Hänsel fressen. Gab es so etwas wirklich?